Musik – Texte – Dromoskonzept

Das Dromos-Konzept zur frei improvisierten Neuen Musik

dromos (griechisch) „der Weg, „der Lauf“
Das dromos-Konzept ist ein eigenes musikphilosophisches Konzept, das aus meinen philosophischen Konzepten „Dreieinigkeit“ und „Gewordenes versus Gemachtes“ hervorgegangen ist.

Platonische Philosophie

Es ist nicht die musikalische Form, die innen entsteht, sondern die Form ist das Vorhandene. Die musikalische Form ist in erster Linie die Form des menschlichen Körpers und des Musikinstruments. Das, welches zum zeitlichen Verlauf der Musik führt, ist die Bewegung in der Form, mit der Form in Verschmelzung als die Form.

Die Bewusstheit, die sich in der Form wach empfindet und den zeitlichen Verlauf der Musik verursacht, ist nicht die Form. Die Bewusstheit ist eine andere Sphäre. Sie empfindet sich in den Formen. Das sind der Körper und das Musikinstrument. Die Bewusstheit des die Musik Erschaffenden, auch die des Hörers, führt im musikalischen Verlauf zu einer Verhältnismäßigkeit zu den Formen. Diese Verhältnismäßigkeit formt die Formen als Formen, aber die formende Bewusstheit ist dabei selber keine Form und sie ist mit der Formhaftigkeit als solcher auch nicht im Einklang.

Das „sich in ein Verhältnis zu den Formen setzen“ der Bewusstheit weist über die Formen hinaus. Das ist das Ziel der Bewusstheit. Formen, die über die Formen hinausweisen, sind das Spezifische des musikalischen Prozesses.

Konsequenzen für das Musikerleben

Das über sich Hinausweisende ist das Eigentliche der Musik und konstituiert ihr rauschhaftes Erleben. Die physikalische Form eines Klanges wird erst dadurch geistig attraktiv, jenseits von Analyse und Verstand. Das ist so bei den Volks- und Popmusiken, in der Klassik, der Neuen Musik und im Jazz usw. Gerade auch das Geräuschhafte in der Experimentellen und Neuen Musik ist für das hörende Bewusstsein Musik durch seine erlebte Verhältnismäßigkeit zur physikalischen Form, die über die physikalische Form hinausweist und damit zum Klang und zur Musik werden kann, vorausgesetzt die Attraktivität des Klanges und die geistige Sensitivität des Hörers finden zusammen.

Das geistige Interesse des Bewusstseins vereint sich dabei mit dem über die musikalische Form Hinausweisenden jenseits von Analyse und Verstand. Analyse und Verstand schaffen in der Kunstmusik aber oft erst das Bewusstsein, dem eine musikalische Form attraktiv wird. Das geschieht im musikalischen Bereich wie in der bildenden Kunst. Das zum Verstehen hingelenkte Bewusstsein erlebt eine Einheit mit dem Kunstwerk, die als persönlich bereichernd empfunden wird. Dies geschieht immer dann, wenn sich das Bewusstsein in seiner persönlichen Verhältnismäßigkeit zur Form des Kunstwerks als wach und gegenwärtig erlebt.

Eine zweite Konsequenz des über sich Hinausweisenden der Musik ist ihr Fortschreitungscharakter. Eine über sich hinausweisende Form führt zu einer weiteren Form, bzw. zu einem weiteren Erleben. In der Musik erlebt das Bewusstsein immer wieder etwas Neues. Ein Erleben führt zum weiteren Erleben. Eine Sonderform ist die Vertiefung des Erlebens in der meditativen Musik.

Das dromos-Konzept

Ein frei improvisiertes Musizieren befindet sich direkt im gegenwärtigen wachen Musikerleben, also im Erleben des über die musikalische Form Hinausweisenden. Im Wechselspiel mit den eben selbst erschaffenen musikalischen Formen ist dies ein sinnliches, emotionales und geistiges Erleben in Einem. Das wache gegenwärtige Musikerleben während des frei improvisierten Musizierens führt so zur Verschmelzung der sinnlichen, emotionalen und geistigen Sphäre. Dies ist jedoch ein inneres Erleben, dem Rezipienten nicht direkt zugänglich und vielleicht auch nicht einmal nachvollziehbar.

Bei Jazzkennern gibt es das Phänomen, dass sie oft schon nach wenigen Takten den Solisten benennen können. Jazzfernere Menschen registrieren diese Fähigkeit in großem Erstaunen. Für Jazzliebhaber spricht der Name des Solisten bzw. seine Gedächtniskennung direkt als Subinformation aus den Takten. Die Erkennungsleistung ist in den meisten Fällen keine Analyse-, sondern eine Intuitionsleistung. Der Verlauf der Musik der wenigen gehörten Takte verweist auf ein Zentrum, und dieses Zentrum ist die Person des Instrumentalisten. Natürlich geht es auch um das Erkennen von Spielweise und Intonation, aber die erlebte plötzliche Nähe der Person des Jazzsolisten greift auf tiefere Informationen zurück. Wir sind als Menschen mit außerordentlichen empathischen Fähigkeiten ausgestattet. Im Experiment reichen nur wenige Lichtpunkte als Markierungen für Mimik und Gestik aus, um eine menschliche Persönlichkeit dahinter zu erkennen. Nun gehen die Fähigkeiten des menschlichen Gehörsinns weit über die Fähigkeiten seines Sehverarbeitungsvermögens hinaus. Wir sind als Menschen dazu ausgestattet, uns die Welt zu erhören und hörend zu verstehen. Dies sind alles Leistungen, die die Basis für das Musikerleben bilden.

Frei improvisierte Musik kann ganz besonders auf musikalisch grundsätzliche, menschliche Merkmale verweisen, die als Zentrum hinter einer solistischen Gestaltbildung stehen. Der Zugang zu einer menschlichen Dimension, die dort liegt, wo die Musik über sich selbst hinaus verweist, ist so auch über ein stilistisch schwieriges Terrain hinweg möglich. Dabei die Paarung eines individualisierenden Solisten mit seinem Instrument ins Zentrum zu stellen ist naheliegend, entspricht aber nicht den Tendenzen der Neuen Musik, die gerade die vielfältigen kulturellen Gebundenheiten der Musikausübenden überwinden möchte. Solistisch frei improvisierte Neue Musik erscheint in diesem Licht als Widerspruch in sich. Zumal in den Kanon der Neuen Musik auch nur diejenigen Werke Eingang finden, die in verschriftlichter Form vorliegen.

Mich reizt es in diesem Spannungsfeld zu arbeiten und bisher eher unbeachtete Möglichkeiten des inspirierten Musikschaffens zu explorieren.

In meiner Auffassung befinden sich eine freie solistische – also individualisierende – Improvisation und Neue Musik am selben Ausgangspunkt. Der freie Solist mit seinem Instrument individualisiert sich hinaus aus den Formen entsprechend des Horizontes der Neuen Musik. Was bleibt ist ein individueller Wesenskern in der Dimension, auf die die musikalische Form über sich selbst hinaus verweist. In der jetzigen Situation der Neuen Musik ist dies eine Bereicherung für sie.

Die frei improvisierende Neue Musik nimmt eine Qualität des Bewusstsein für den Spieler in Anspruch, wie sie in der Regel nur für den Komponisten der Neuen Musik zugestanden besteht. Die Neue Musik hat ein bewusst gebrochenes Verhältnis zum individuellen Bewusstsein. Dies lässt sich auf ihre Ausgangssituation nach dem Zweiten Weltkrieg zurückführen. Der bewusst entscheidende, weil individuell frei erlebende Musiker taucht zwar in den Spielanweisungen häufig auf, aber fast immer ist es, gerade durch die Spielanweisungen, ein in einem fragmentierten Kontext kontrolliertes Bewusstsein. Wie könnte dies in einer verschriftlichten Komposition mit einem persönlichen Urheber auch anders sein.

Dagegen individualisiert sich der frei improvisierende Solist aus den Formen hinaus, weil es sein Bewusstsein ist, das dies unvermeidbar erlebt. Eine frei improvisierte Neue Musik setzt allerdings so notwendig eben dieses Bewusstsein voraus, ein Bewusstsein, das sich in seiner Verhältnismäßigkeit zur Form als wach und gegenwärtig erlebt. Je wacher und gegenwärtiger sich ein Bewusstsein in den Formen erlebt, um so eindeutiger geschieht dies in der dem Bewusstsein eigenen Dimension. Das musikalische Ergebnis bleibt selbstverständlich immer formverhaftet, weil es die physikalischen Formen sind, die klingen und nicht das Bewusstsein. Dies schließt nicht aus, dass ein musikalischer Kontext auch durch Stille gerade diejenige Bewusstseinsdimension erzeugt, auf die die Formen letztendlich für den musizierenden oder Musik rezipierenden Menschen hin verweisen.

Hörhilfe:
In den Dromos-Stücken verdeutlicht sich ein Wechsel zwischen musikalischer Form und der Neigung des Bewusstseins, jenseits dieser Form seiner heimatlichen Dimension zuzustreben. Das Bewusstsein ist das des Spielers, das sich in der musikalischen Form wach und gegenwärtig empfindet (also nicht tranceartig verschmolzen ist mit der Form). In dieser Situation weisen die musikalischen Formen über sich hinaus. Die dem Bewusstsein eigene Dimension klingt jedoch nicht, so dass der musikalische Verlauf immer wieder eine neue oder leicht veränderte Form entwickelt, die auch wieder über sich hinaus verweist usw.
Dieser Wechsel findet notwendigerweise bei jeder freien Improvisation statt. Die Dromos-Stücke wollen so angelegt sein, dass dieser Vorgang hörend rezipiert werden kann.