Gewordenes und Gemachtes – Menschliche Existenz als Gewordenes im Gemachten

Gewordenes und Gemachtes als zwei Formenkreise, die sich auf der Erde gegenüber stehen

Menschliche Existenz als Gewordenes im Gemachten

Wir leben in einer planetaren Umgebung, in der das Gemachte das Gewordene zunehmend verdrängt. Dass man dies als planetarische Tatsache ausdrücken kann, ist relativ neu. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Prozess verstetigt und gilt seit geraumer Zeit in jeder Weltgegend als unumkehrbar.

Die Versiegelung und Verstädterung der Erde, die zahlreichen erheblichen Umweltbelastungen und das Artensterben sind Indikatoren, die am deutlichsten das neue Bild des Lebens auf diesem Planeten bestimmen.

So erleben viele Menschen das Gewordene nur inselhaft oder unklar. Selbst auf dem Land ist es nicht so präsent, wie es den Anschein hat. Erstens hat sich auf das Gewordene ein Schleier gelegt. Es sind Microplastik, Quecksilber, Weichmacher, Pestizide und Klimagase, die praktisch überall als menschengemacht nachweisbar sind. Zweitens sind die Landschaften, in denen Menschen leben, auch auf dem Land, weitgehend vom Menschengemachten geprägt. Und drittens leben die meisten westlichen Menschen, egal ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, unvermeidlich in einer undurchdringlichen Blase des Gemachten. Selbst wenn hinter ihrem Haus ein Garten liegt, betreten sie das Gewordene fest eingefügt in das Gemachte, das sie immer mit sich nehmen. Das ist auch in Urlauben und Ausflügen und selbst bei wissenschaftlichen Projekten und Expeditionen der Fall. Der mentale Ort, an dem die meisten Menschen auf der Erde leben, ist das Gemachte.

Wenn wir feststellen, dass das Gemachte das Gewordene verdrängt, betrifft dies deshalb nicht nur die Biosphäre. Es betrifft auf genauso dramatische Weise unser Bewusstsein, unsere Art, wir selber zu sein, unsere Personhaftigkeit. Darum soll es im Folgenden gehen.

 

Unsere Selbstwirksamkeit braucht ein Terrain. Dieses ist eben nicht mehr das Gewordene, sondern fast vollständig das Gemachte. Daran ändern auch Ausflüge und Sport in der Natur in Funktionskleidung nichts. Wenn es darum geht, einen Raum zu erhalten, in dem wir sein können, entscheiden wir uns seit langem immer wieder für das Gemachte.

Das war einmal anders. Aber man muss bis in die Altsteinzeit, in die Jäger und Sammler-Gesellschaften zurückgehen. Dort war die Existenz des Homo Sapiens wahrscheinlich noch annähernd eine gewordene Existenz. Sie war, selber Gewordenes, wohl fast vollständig in kongruenter Resonanz mit dem Gewordenen. Auf den Neandertaler und die Frühmenschenarten, z.B. den Homo Erectus, trifft dies umso mehr zu.

Seitdem sind 12-14 Tausend Jahre vergangen. Aber erst das Ende des zweiten Weltkriegs bildet eine globale Zäsur. Lebten bis dahin noch sehr verbreitet menschliche Gesellschaften notwendigerweise und aus freier Entscheidung als gewordene Intelligenz in Resonanz mit dem Gewordenen, beginnt hier die alternativlose Ausformung einer persönlichen Selbstwirksamkeit innerhalb des Gemachten. Heute lebt die planetare Menschheit gemeinsam im Gemachten ohne Umkehrmöglichkeit.

Deshalb bedeutet heute Mensch sein, selbstverständlich weiterhin Gewordenes zu sein, sowohl in der physischen, psychischen und kognitiv-mentalen Grundausstattung. Das weitere Werden findet jedoch im Rahmen und geprägt vom Gemachten statt. Sowohl das, was uns nährt, wie das, was uns die Werkbank für unser Menschsein zur Verfügung stellt, ist das Gemachte. Wir existieren, weil wir im Gemachten leben.

Unsere physisch-psychische, mental-kognitive Ausstattung ist sehr flexibel in seiner Gesamtheit, unser Bewusstsein darin ist jedoch sehr eingeschränkt. Es ist nur ein kleiner Fokus, dieser besondere Jetztzeitpunkt, der unsere bewusst erlebte Gegenwart ist. Das Terrain unserer Selbstwirksamkeit geht darüber weit hinaus. Je mehr Hebel und zum Teil sogar verselbständigte Werkzeuge wir im Gemachten entwickeln, umso weiter ist dieses Terrain.

Aufgrund der Eigenschaften unseres wachen Ich-Bewusstseins, eben dieses kleinen Fokusses im großen Terrain der Selbstwirksamkeit, sind wir quasi auch organismisch im Gemachten eingebunden. Indem wir unsere Gegenwart erleben, erleben wir uns im Gemachten. Das, was wir sind, kommt aus dem Gemachten und ist in Gemeinschaft mit dem Gemachten. Deswegen sind wir mit dem Gemachten identifiziert. Diese Identifizierung ist keine aus der Distanz, sondern sie findet aus der Transparenz heraus statt. Sie ist immer schon vor dem Bewusstsein da. Jedes Mal, wenn unser Tagesbewusstsein erneut erwacht, ist die Identifikation mit dem Gemachten, als „das, was wir sind“, schon im wachen Tages-Ich-Bewusstsein enthalten.

Für das Tagesbewusstsein bedeutet Leben vorrangig, dass es immer weiter geht. Das ist seine zentrale Struktur in den Dimensionen von Raum und Zeit. Das wache, sich selbst bewusste Ich erlebt sich in einem Raum, in dem es ein Woher, ein Mit und ein Als gibt. Das Bewusstsein einer Person in seinem wachen Jetzt-Empfinden ist gegründet darauf, dass es eine individuelle Herkunft und ein Miteinander hat und dass sein Leben sich als dies alles vollzieht.

Dabei zählt in erster Linie das, was weitergeht und manchmal auch nur, dass es weitergeht. In dieser Herkunfts-, Miteinander- und Als-Struktur des Tagesbewusstseins wird entschieden und gehandelt. Dies ist ein sehr kleiner Fokus.

In diesem schmalen Fokus, in dem wir das Jetzt erleben, ist das Gemachte schon seit geraumer Zeit und bei immer mehr Menschen auf diese Weise organismisch eingebunden als „das, was wir sind“. Die Menschheit kann sich global gar nicht mehr ohne das Gemachte erleben. Aufgrund der Eigenschaften unseres wachen Ich-Bewusstseins sind wir mit dem Gemachten verschmolzen. Wir sind das Gemachte. Damit hat überindividuell eine graduell zunehmende Verschmelzung des Gewordenen mit dem Gemachten begonnen. Sie findet in jedem einzelnen Menschen, aber verbreitet auf planetarer Ebene statt. Es ist eine organismisch stattfindende Verschmelzung. Mit einer wichtigen Einschränkung: Diese Verschmelzung oder zumindest Verschränkung, findet nur auf der Bewusstseinsebene im Erleben statt. Tatsächlich wird der Graben zwischen uns und dem Gewordenen immer größer. Damit ist das Bewusstsein der Ort, an dem sich jeder Einzelne immer weniger, wenn überhaupt, im Gewordenen, seiner eigentlichen Heimat, beheimatet fühlt und sich, wenn es darauf ankommt, für das Gemachte und damit tendenziell gegen das Gewordene entscheidet.